EINS.
Unheilsschwanger
Oder wie die Nicht-Jungfrau zum Kinde
kam
Vor gut einem dreiviertel Jahr hat Jette einen Test gemacht. Eine Art
Schwangerschaftstest, aber nein, es ging nicht um so ein kleines Würmchen, das
dann mal zum Menschen werden will. Um die Bestätigung, dass sich da etwas bei
ihr eingenistet hatte hingegen, ging es schon. Also schwanger war sie. Nur eben nicht im klassischen Sinne. Sondern unheilsschwanger. Und das, was sich da
eingenistet hatte, sollte später zum großen, mächtigen, schwarzen Untier werden
(bzw. vielleicht ist das vermeintliche Untier gar nicht so ein Untier, aber
dazu später mehr). Der Test war also positiv. Diagnose: brutusschwanger.
Während viele Frauen sich wohl freuen, wenn sie Nachwuchs erwarten, so
war Jette doch zutiefst erschrocken und verstört. Wie man vielleicht, wenn man
ein Kind erwartet, auch spürt, dass da etwas in einem wächst und gedeiht, so
konnte auch Jette die Anzeichen an sich beobachten. Aber wie so manch eine sich
ihre Schwangerschaft nicht eingesteht und diese so lange und so gut es geht
sich selbst gegenüber verheimlicht, so hat es auch Jette mit ihrem schwarzen
Keimling getan.
Aber irgendwann wächst der symbolische Bauch nun auf so ein Maß heran,
dass sich nichts mehr leugnen und schönreden lässt.
So ist das nun auch mit der Brutusschwangerschaft.
Brutus brauchte länger als neun Monate, um zu einer ordentlichen Größe
heranzuwachsen, sich bemerkbar zu machen und rauszuwollen. Die Tragzeit für
einen Brutus ist lang.
Mit dem unheilsschwanger Werden
das passiert nicht ganz so schnell, wie das mit dem normalen schwanger Werden.
Bei letzterem sind die Fakten nicht sonderlich schwer zu erfassen. Und auch die
Anzahl der beteiligten Personen ist ziemlich eindeutig. Bei der
Brutusschwangerschaft ist das deutlich komplexer. Zwischen beiden
„Schwangerschaften“ gibt es allerdings Parallelen: Wie auch bei einer
ungeplanten Schwangerschaft kommt Jette zu Brutus wie die (Jung)Frau zum Kinde:
durch Unachtsamkeit. Durch das Missachten wesentlicher Dinge.
Und Brutus fackelt nicht lange, einmal ein schönes Plätzchen gefunden,
bleibt er gern.
Zuerst mag man unter Schock stehen, wenn man bemerkt, dass man einen
Brutus in sich trägt. Klar, wer will das schon? War ja auch nicht geplant.
Und zwischen Brutus und einem Baby gibt
es auch eine Parallele: frau „wird sie nicht einfach so wieder los“. Ist das
Kind erst einmal ins Bettchen gefallen, gibt es kein Zurück. Aufzucht und
Erziehung sind unabdingbar. Da muss sie dann unweigerlich durch!
Das Aufziehen von Nachwuchs jeglicher Art kostet bekanntlich Kraft und
Zeit und Geld. Während man allerdings bei einem Menschenkind bemüht ist, es nach
bestem Wissen und Gewissen wachsen und gedeihen zu lassen und groß und stark zu machen, so ist
das Ziel bei Brutus, ihn kleiner werden zu lassen. Nach und nach. Kleinziehen also. Gegensätzlich zum
Großziehen. Abziehen könnte man auch
sagen. Als Kontrast zu Aufziehen.
Aber herab zieht Brutus selbst schon
zur Genüge. Da muss man als Frau und Lebensschenkerin nicht noch nachhelfen.
Mit Brutus und den Kindern das ist so eine Sache. Zuerst einmal mag
man denken „Ohjee“. Da hat man plötzlich eine riesengroße Aufgabe und
Verantwortung vor sich liegen. Und ist dem Gedanken gar nicht zugeneigt. Und
dem Erscheinungsbild des Nachwuchses vielleicht auch nicht sonderlich.
Bei Brutus ist das so: anfangs sieht man etwas Schwarzes,
Unheimliches, bedrohlich Wirkendes. Schaut man genauer hin, wird man jedoch
gewahr, dass dieses furchtbar schnell wachsende Geschöpf gar nicht so
unheimlich ist. Nein, sogar fast niedlich und hübsch.
Jettes Brutus sieht auch gar nicht furchterregend aus. Der Kopf ist
der eines schwarzen Stinktieres. Putzige
dunkle Augen hat er, der Brutus. Und große Puschelohren. Und natürlich
ist er riesig. Viel größer als Jette. Als sie ihn das erste Mal richtig gesehen
hat, war sie verwundert über den zahmen Anblick des vermeintlichen Untieres.
Und noch etwas hat Jette erstaunt: das böse Vieh wollte ihr gar nichts Böses!
Stattdessen hat es sich warm und schützend um sie gelegt.
Jette hat das erst nicht verstanden. Brutus war doch ungewollt und
unerwünscht und ihr Feind. Er hat ihr jahrelang so viele unerklärbare
Beschwerden verursacht und jetzt nimmt er ihr ganzes Leben ein, erstarkt wie er
über die Zeit ist, und stellt alles auf den Kopf. Jette war deshalb wütend und
hilflos und verunsichert.
Aber nun, da sie (im wahrsten Sinne des Wortes)das echte Gesicht von
Brutus gesehen hat, nimmt sie eine andere Haltung ein:
Richtig. Brutus will ihr nichts Böses.
Brutus ermahnt Jette nur mit Nachdruck, dass sie sich jetzt mal
richtig um sich selbst kümmern muss. Nicht immer nur um die anderen. Nicht
immer allen alles rechtmachen wollen darf.
Brutus zeigt Jette auf, was in der Vergangenheit so schief gelaufen
ist.
Erklärt ihr, wie er sich bei ihr einnisten konnte. Ja, eben durch die
Unnachgiebigkeit und Unachtsamkeit mit sich selbst. Aber eben auch durch viele
andere Leute und Faktoren, die Brutus bei Jette ein gemütliches Nest bereitet
haben.
Brutus ist gar nicht böse und gemein, merkt Jette irgendwann.
Brutus ist Jettes Notbremse.
Ganz schön klug von ihrem Körper, dass er Brutus bei Jette einziehen
lässt, damit die endlich mal zur Ordnung gerufen wird. „Hallo, kümmer dich
jetzt um mich!“, lässt er durch Brutus übermitteln.
Und Brutus ist zu bändigen. Durch Fürsorge und Streicheleinheiten
lässt er sich kleinziehen. Langsam
vielleicht, ganz langsam. Aber Jette merkt, Brutus ist nicht mehr so bissig wie
am Anfang. Die beiden haben sich nahezu angefreundet. Jette hat akzeptiert,
dass sie eine Zeit ihres Lebens mit Brutus verbringen muss. Weil sie früher
eben zu unvorsichtig war.
Wie auch bei menschlichem Nachwuchs ist klar: bis die lieben Kleinen
groß, bzw. der böse Große klein geworden ist, dauert es. Aber irgendwann sind
die Kinder aus dem Haus und die Mama ist dann wieder frei und kann sich selbst
neu definieren, weil sie durch die ganzen Jahre eine Menge gelernt hat. Und
noch so einen hat das Bewusstsein über die „Schwangerschaft“ – Jette versteht
sich endlich selbst. All die Jahre diese Erschöpfung. Dieses Hardcore-Schlafen
nach einer unglaublich anstrengenden Woche. Die fehlende Kraft und Not, immer
noch alles zu schaffen. Am besten noch mit Leichtigkeit und überragendem Erfolg
– schaffen die anderen ja auch alles parallel! Und das schlimmste: die
schrägen, anklagenden Blicke. „Warum verschläft sie denn schon wieder den
ganzen Tag?!“, „Warum spielst du denn jetzt nicht mit mir?“, „Was machst du die
ganzen Ferien über denn? Du hast doch nichts zu tun! Immer hast du Zeit!“. All
das Anklagen, all die Anschuldigungen, all die Vorwürfe, die haben jetzt keine
Macht mehr. Denn Jette muss sich jetzt nicht mehr falsch und schuldig fühlen.
Endlich weiß sie, warum sie immer so
kaputt war. So ausgebrannt. Denn bei der Diagnose Brutus ist das alles ganz „normal“! Und auch, wenn ihr Umfeld das
vielleicht nicht versteht, Jette kann es nun endlich. Keine Vorwürfe mehr wegen
dem großen Wunsch nach Entspannung und Schlaf. Keine fehlende Antwort auf die
Frage, was sie denn die ganzen Ferien über mache, mehr: Jette muss sich um die (Un)Tierpflege
kümmern! Spazieren gehen, erziehen, füttern, kraulen, schmusen, schlafen. Das
beansprucht einen ganz schön. Und das
müssten ja auch die letzten Idioten und Unverständigen nachvollziehen können! (also erzählt sie vielleicht, wenn sie
gar nicht weiß, wie sie sich anders erklären soll, von einem neuen,
anstrengenden Haustier, das ihre ganze Kraft frisst. Das würde jeder verstehen
und gelogen wäre es auch nur ein bisschen.)